Prof. Dr. Dr.sc. Valentin Kanawrow
DER GEIST ALS ONTOLOGEM DER EPOCHE DER
AUFKLÄRUNG
Wenn ich über den Geist, aber konkret in Bezug auf die
Philosophie Hegels spreche, tue ich es mit einer gewissen
theoretischen Bangigkeit. Weil ich mich danach frage, ob ich ein
konservativer oder nichtkonservativer Nachfolger Hegels bin, ob ich
irgendwie zum Geiste des Philosophierens Hegels, zum Sinne und zur
Tradition seiner Philosophie gehöre; ob ich kohärent mitdenke und
mitspreche; oder bin ich ein Kritiker, aber nicht im Sinne Kants,
d.h. nicht auf der Ebene der rationalen Immanenz, sondern als ein
immer gute und entscheidende Argumente habender Kritikaster, der
keinesfalls auf dem Niveau Hegels steht, aber doch ein Wörtchen
stets mitzureden hat; oder halte ich einfach eine Laudatio. Dieses
Fragen kann auch so formuliert werden: wie darf ich über den Geist
in Bezug auf die Philosophie Hegels sprechen, so dass dieses
Sprechen mein eigenes reales Sprechen, aber doch ein relevantes
philosophisches und ein der Philosophie Hegels adäquates Sprechen
ist?
Es gibt mehrere mögliche theoretische Varianten den Geist der
Philosophie Hegels, den Geist als ihr Grund- und Hauptelement und
den Geist der hegelschen Epoche der Aufklärung rein philosophisch
auszudiskutieren - abhängig davon, wie und was zu forschen ist.
Eine angemessene Vorgehensweise für diese Untersuchung ist meiner
Meinung nach das philosophisch internalistische Herangehen. Es
bedeutet Folgendes: der Linie der innerlichen Entwicklung der
europäischen Philosophie als einer Logosphilosophie streng und
unabweichend zu folgen; und auf diese Weise den Geist als ein
ontologisches Grundexplikat der Vernunft, d.h. der tätigen Form des
reinen Denkens zu konzeptualisieren. So, wie es Hegel getan hat,
so, wie Hegel seine Philosophie selber verstanden und getrieben
hat: "[…] es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine
Logik aufgenommen [habe]."[1] So
Hegel in der Geschichte der Philosophie. Und in der Enzyklopädie
steht: "Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition
des Absoluten. Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt
zu begreifen, dies, - kann man sagen - war die absolute Tendenz
aller Bildung und Philosophie. […] Der Begriff des Geistes hat
seine Realität im Geist. Daß diese in der Identität mit jenem als
das Wissen der absoluten Idee sey, hierhin ist die notwendige
Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu
ihrem Begriffe befreit sey, um die dessen würdige Gestalt zu
seyn."[2]
Warum nun eine (oder, stärker gefasst, die!) Logosphilosophie?
Weil die europäische Philosophie sich von ihrem Anfang an nicht
bloß im Bereich der Weisheit, der Erkenntnis und des Denkens
entwickelt, sondern im Bereich des reinen und konstitutiven
Denkens. Was bedeutet der Logos als ein reines und konstitutives
Denken? Es bedeutet ein allgemeines ontologisierendes Denken, also
ein Denken, das die systematische Gestalt des Seins (des
Makrokosmos) und der menschlichen Existenz (des Mikrokosmos) aus
der Position der apriorisierten und metaphysierten Erkenntnis
aufbaut. Und genau der Geist als ein Ontologem, d.h. als eine
rational betrachtete Seinsquintessenz des intellektuellen und
geschichtlichen Ganzen, krönt im Bereich des Seins die Entfaltung
der europäischen Logosphilosophie. Der Geist ist die bloße
Seinsmonade, das reine Subjekt und das aktuelle Ganze der durch die
reine und tätige Vernunft systematisch verstandenen bzw.
konstruierten Welt.
Diese philosophische Betrachtungsweise ist heute nicht so sehr
anerkannt. Die heutige Philosophie verzichtet nicht nur auf die
Metaphysik, die Apriorität und die Systematik, sondern auch auf die
Erkenntnis. Ja mehr noch: heute verzichtet man auf die
metaphysische und metaphysierte Erkenntnis, auf die Erkenntnis als
das die Philosophie prinzipierende Element, auf die Erkenntnis als
ein erstrangiger philosophischer Problemkreis, auf die Erkenntnis
als das eigentlich einzige philosophische Instrument. Leider steht
es in der heutigen Philosophie auch mit der systematischen
Erkenntnis nicht zum Besten, obwohl alle Religionen, die Politik,
die Ideologie, die Wirtschaft unser ganzes Leben zu ordnen,
normieren und systematisieren versuchen. Es ist seltsam, dass -
nachdem man heute in allen Bereichen: in der Weltwirtschaft,
Weltpolitik, Weltökologie, Weltreligionen u.s.w. nach einer
lebendigen, kohärenten und effektiven Systematik strebt, - die
Philosophie die systematische, reflexive und schaffende Erkenntnis
und das systematisch ontologisierende Denken, also das, was sie in
der tausendjährig langen intellektuellen Geschichte Europas selber
generiert hat und was sie selber ist, verleugnet.
Dieser Situation zufolge gibt es letzten Endes keine
spezifische, selbständige und ausreichende philosophische
Erkenntnis und also keine Philosophie. Jede Äußerung, jede
Überlegung, jede Erörterung, jede Abhandlung, jede Argumentation,
jeder Diskurs nennt man Philosophie, ist Philosophie. So verliert
sie ihr eigenes konzeptuelles Gesicht. Das ist aber nicht die
Weltweisheit, die die alten Griechen gegründet und uns vererbt
haben. Das ist keinesfalls eine notwendige und folgerechte Stufe
der Entwicklung der europäischen Rationalität.
1. Die philosophische Geburt des Geistes
Thales macht den Anfang, legt das gründende Prinzip an; Heraklit
formuliert den Logos als reines konstitutives Denken; Platon
expliziert die Transzendenz des Ideellen als Anfang und Vorbild.
Der Logos entsteht als eine rationale Erkenntnisform contrainduktiv
und -deduktiv: alsoex nihilo. Das ist der Urknall der
metaphysischen Intuition, die das apriorische Denken fordert. Die
Geburt des Logos ist ein Akt der metaphysischen Intuition, ein
Ausbruch der selbständigen philosophischen Erkenntnis und kein Akt
des Bewusstseins, weil das Bewusstsein immer gegenständlich
gebunden ist. Der Logos ist keineswegs dieses oder jenes
Erkenntnisvermögen, keine Naturgegebenheit des Menschen, keine
anthropologische Eigenschaft, keine psychische Realität, kein
psychophysisches Element. Er ist die blosse Erkenntnisform, die
gegenstands- und weltlos aber nur in Bezug auf die Welt nach sich
selbst fragt, und eben damit in ihrer effektiven Tätigkeit den
systematischen Sinn dieser Welt als Ontologie philosophisch
herausarbeitet. Der Logos ist der philosophische Grund des Seins;
eidos kai logos - sagt Aristoteles. Nachdem der Logos schon "da"
ist, wird alles anders. Es verändern sich das Sein, die menschliche
Existenz, der Grund, die Gegebenheit, die Lust, die Feiern, der
Gram, die Liebe, die Politik, das ganze Leben, weil er all das aus
sich selbst nicht nur modifiziert und transformiert, sondern
aufbaut. Das Denken des Seins als eine Weltschöpfung heisst
Onto-logie. Durch den Logos entstehen die Wahrheit, die Freiheit
und die Tätigkeit, die seitdem die wichtigsten Werte des Europäers
sind.
Die eigentliche Philosophie als systematisch ontologisierendes
Denken beginnt aber erst mit Aristoteles, der ihre Form des tätigen
Denkens und der aufbauenden Erkenntnis im Rahmen des so genannten
Hylemorphismus entdeckt. Wichtige Schritte auf dem Wege der
Explikation des reinen Denkens und der ontologischen Verwirklichung
seiner Seinskraft machen viele andere weise Männer und Frauen.
Trotzdem kann die europäische Philosophie in ihren ersten "1000
Jahren" keine monistische Ontologie herausarbeiten. Die antike
Philosophie strebt mit ganzer Kraft danach, geht aber nicht soweit.
Die ganze Antike ist - philosophisch gesehen - seinspluralistisch.
Sie ist eine Welt der vielen Seelen. Platon kommt zur Idee der
Weltseele, entwickelt aber daraus keine Seinsgenealogie. Waren
damals die Mythen noch zu stark, war der Logos noch zu schwach, gab
es auch weitere Außen- und Innenfaktoren, die den Schritt zum
Seinsmonismus hinderten? All das zu klären ist eine große und
schwierige Aufgabe. Kurz gefasst: die Antike war nicht soweit, die
Idee des Seinsmonismus klar und kräftig genug herauszuarbeiten und
auszubauen. Sie war, ontologisch betrachtet, eine Welt der mehreren
lebendigen und unsterblichen Seelen.
Der Übergang vom Seinspluralismus zum Seinsmonismus wird in den
nächsten "1000 Jahren" geschaffen und ausgebaut als Gott (obwohl in
Dreieinigkeit) die eigentliche, die erste, die wahre, die
selbstgenügende Welt ausprägt. Unbedingt muss man hierbei den Namen
des Philosophen und Märtyrers Justinus erwähnen. Er ist der erste,
der schon im 2. Jahrhundert Jesus Logos-Christos und Theos-Logos
nennt. Etwas früher, kurz nach der Zeitrechnungswende,
transformiert Philon von Alexandrien (Philon der Jude) die Reinheit
des abstrakten und formalisierten Logos in eine Reinheit des
lebendigen Gottes. Der Logos befreit sich von allen mythischen
Elementen. Aber seine Erkenntnisentwicklung ist nicht mehr in der
Richtung der spezifisch philosophischen Erkenntnismetaphysik, der
reinen Philosophie, sondern in der Richtung des dogmatischen
Postulats. Er ist wieder ordos logos, aber nicht als eine bloße
apriorische Form des Denkens, sondern als eine seiende Intelligenz.
Hegel beschreibt das Niveau der Logosphilosophie bei Philon so:
"Überhaupt ist diese Philosophie weniger Metaphysik des Begriffes
oder Denkens selbst, als daß der Geist nur im reinen Denken
erscheint, nicht hier in der Weise der Vorstellung ist, und die
Begriffe, Ideen als selbstständige Gestalten vorgestellt find."[3]
Die eigentliche Christianisierung des Logos prägt sich aber
sowohl als eine ausdrückliche und deutliche Ablehnung der
Philosophie, als auch als eine definitive dogmatische Ureinheit der
Erkenntnis und des Seins im Gott aus: "Im Anfang war das Wort, und
das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang
bei Gott. Alles ist durch Ihn entstanden, und ohne Ihn entstanden
ist nichts von dem, was besteht." Und zwar das Wort aber in einer
christlich-dogmatischen Auslegung ist die neue metaphysische Form
des Logos, des allgemeinen Denkens. Diese wortgebundene
Seinseinigkeit kann man im Sinne der Ontologemität als Intelligenz
definieren: "Ich bin der Weg, und die Wahrheit, und das Leben."
Die Theoretisierung der Intelligenz als ein monistisches
Ontologem der mittelalterlichen Geistigkeit darf man nicht als
einen Reduktionsversuch gegenüber der Trinität betrachten. Die
Intelligenz braucht man nicht bis zu einer einzigen Gotteshypostase
komprimieren. Nein, ihre Ontologisierung ist ein philosophisches
Resultat der Exteriorisierung ihres einheitlichen Wesens im Rahmen
der einzigen göttlichen Realität. Die Intelligenz ist ein Sein mit
geistigen Ausmaßen, das die Typik des trinitären Auftritts der
Gottheit trägt.
In der Antike ist die Seele nur ein Teil der geistigen Welt, im
Mittelalter ist die geistige Welt ein Teil der Intelligenz. In der
Antike ist die Seele mit dem Somatischen dicht verflochten, im
Mittelalter kommt die Intelligenz nicht aus dieser Welt heraus,
schöpft sie aber ex nihilo, eigentlich aus sich selbst, obwohl sie
nicht das Nichts, sondern das Ganze ausprägt. Die Seele strebt nach
dem Wissen, die Intelligenz ist das absolute Wissen an sich[4].
Das ontologeme Durchsetzen der Intelligenz, hauptsächlich von
der Richtung des Gottesseins her, eröffnet die breitest möglichste
Perspektive vor der Erkenntnis, aber mystifiziert zugleich das Wort
selbst. Darin steckt das größte Wissensparadox der
mittelalterlichen Philosophie. Sie thematisiert, diskutiert und
theoretisiert die höchste Stufe der Erkenntnis - die
Gotteserkenntnis - aber nur mit Furcht und Zittern, nur als eine
Auslegung, Projektion oder Bestrebung. Die Illumination und die
Vereinigung mit dem göttlichen Intellekt sind keine
Wortaktualisation, kein Wortprodukt, kein theoretisches Resultat,
keine wiederholbare individuelle Erkenntnisprozedur, keine Methode.
Die Gotteserkenntnis metaphysiert sich in einer transzendenten
Form, die als solche das erkenntnisgebundene Wesen des Wortes eher
versteckt als eröffnet. Der Himmel ist voll mit Heiligen, Engeln
und Märtyrern, die aber die Erkenntnispotenzen der Gottheit nicht
erhellen, sondern nur die Glaubens- und Kultustreue mediieren. Auf
diese Weise verwandeln sich das Wort und die Intelligenz in eine
Bremse auf dem Weg zu den unendlichen ontologischen Ansprüchen der
Erkenntnis. Hegel bemerkt treffend, dass man in die Gotteswelt
nicht durch die Erkenntnis, sondern nur durch den Tod übergehen
kann, weil die Erkenntnis mehr Fluch statt Wert, Nutzen,
Selbstbewusstsein oder Existenz ist. Der dogmatisch-ontologische
Monismus der Intelligenz, der die Seinseinheit als Gotteswort
darstellt, gibt die Erkenntnis und insbesondere die konstitutive
philosophische Erkenntnis preis. Das Denken macht der Offenbarung
und der Mystik Platz. Das Licht schließt das konstitutive Denken
aus. Das Licht heisst Dunkelheit für die reine philosophische
Erkenntnis, wenn sie nach der rationalen Einigkeit der beiden
Welten - der göttlichen und der menschlichen - strebt.
Der Übergang vom dogmatischen Monismus des Mittelalters zum
rationalen und kritischen Monismus der Neuzeit ist die
erkenntnismetaphysische Geburt und der systematisch ontologische
Ausbau des Geistes. Der eigentliche erkenntnismetaphysische, d.h.
interne Bruch, der vom rationalen Standpunkt aus die ontologischen
Grundintentionen der Neuzeit in sich trägt, ist das Durchsetzen der
Vernunft als die neue Form der metaphysischen
(metaphysisch-konstitutiven) Erkenntnissynthese. Sie realisiert die
schon in der antiken Philosophie enthüllte Kraft und Dynamik des
Logos.
Francis Bacon ist der erste, der die antischolastische Wende in
der Philosophie leistet. Sein Hauptziel ist die Intelligenz von
ihren Idolen zu befreien, damit sie die richtigen Mittel zu einer
korrekten Deutung der Natur finden kann. Streng genommen ist
Descartes der richtige Erneuerer der produktiven
Erkenntnismetaphysik. Er entwickelt die Idee der Vernunft nicht als
ein intelligenzgebundenes Vermögen des Menschen, sondern als ein
Grund, der den Sinn des Seins unmittelbar ausbildet. Das Prinzip
der Identität vom Denken und Sein ist die metaphysisch grundlegende
Erkenntnisfundamentalität, die generative methodische Projektionen
hat, welche mehrmals geübt, aber auch weiterentwickelt werden
können. Für Cartesius ist die Vernunft eine Intuition, die nicht
nur die Wahrheit unmittelbar erreicht, sondern auch
cogitationsweise das Wesen des Seins direkt ausmacht. Leider ist
Descartes nicht genug konsequent - das Denken ist meistens in der
Ich-Form, die Substanzen sind zwei, die Methodologie ist
hauptsächlich subjektivistisch orientiert. Trotzdem aber
prinzipiert (d.h. fundamentalisiert) Cartesius das reine Denken und
auf diese Weise eröffnet er erkenntnismetaphysisch die Möglichkeit
für eine rationalistisch-monistische Ontologie, die später Spinoza,
Leibniz, Wolff, Hegel u.v.a. systematisch erarbeiten.
Kant überwindet die wesentlichste Schwäche des rationalistischen
Monismus, nämlich die unmittelbare leicht-sinnige Ontologisierung
und Substantialisierung der Vernunftbestimmungen. Diese
Leicht-sinnigkeit kann man zusammen mit Spinoza so verstehen: die
Reihe und die Verbindung der Gedanken sind gleich der Reihe und der
Verbindung der Dinge. Kant bewahrt den erkenntnismetaphysischen
Status der Vernunft als das Erkenntnisvermögen für Prinzipien.
Seine Auffassung der Kritik der Vernunft hat sozusagen einen vor-
bzw. metametaphysischen Charakter (einigen Tagen vor der
Erscheinung der erstenKritikschreibt Kant an seinen Freund Markus
Herz, dass seine kritische Untersuchung eine schwierige ist, weil
sie die Metaphysik der Metaphysik darstellt).
Die Kritik zwingt die reine Vernunft, die für die apriorische,
notwendige und ausreichende Erkenntnis zuständig ist, ihre eigenen
Grenzen theoretisch zu ermitteln. Und diese sind mit den Grenzen
der Erfahrung, d.h. den Grenzen zwischen dem Apriorischen und dem
Aposteriorischen gleichgesetzt. Das Wichtigste daran ist zweierlei:
die Vernunft erfährt ihre eigene Illusion, wenn sie leicht-sinnig
diese Grenzen unmittelbar überspringt (Kant nennt das Dialektik),
und dies ist der negative Nutzen der Kritik; der positive Nutzen
ist, dass diese Grenzen, bzw. die Erfahrung die Richtung und den
Weg der apriorischen Erkenntnissynthese zeigen. Die Kritik
verbietet den unkontrollierten Weg nach oben (im Sinne Heraklits),
ermöglicht aber den konstitutiven und regulativen Weg nach unten,
den Weg der transzendentalen Erkenntnissynthese zur Erfahrung. Die
Kritik bereitet den Erfolg der Erkenntnissynthese auf dem Felde der
Ontologisierung vor. Die Letztere kann bei Kant als eine Begründung
der Erfahrung und als eine systematische Metaphysik der Natur und
der Sitten verstanden werden.
Leider bleiben bei Kant das Apriori und das Aposteriori, die
theoretische und die praktische Vernunft, die Freiheit und die
Begreiflichkeit durch eine "unübersehbare Kluft" total gespalten
und können nicht widerspruchslos mediiert werden, weil die
Erfahrung nur statisch und potentiell als etwas Externes bei der
Entfaltung der transzendentalen Synthese thematisiert wird. Die
Erfahrung übt auf die Erkenntnissynthese keinen Einfluss aus. Die
Erfahrung ist kein immanentes Element der kritischen Philosophie.
Kant spricht in derKritikimmer über die mögliche Erfahrung.
Trotzdem aber zeigt das eingehende Studium der drittenKritik,
derReligionsschrift, derMetaphysischen Anfangsgründe der
Naturwissenschaft, derMetaphysik der Sittenund anderer Schriften
Kants deutlich, dass seine transzendentale Philosophie die
Möglichkeit einer kritisch-monistischen Ontologie theoretisch
vorbereitet. Ohne weiteres kann man behaupten, dass
KantsFortschritteder Metaphysikeine solche Ontologisierung
ermöglichen.
Die eigentliche Herausarbeitung einer monistischen Ontologie
steht aber bevor. Die kritische Form der reinen Vernunft muss als
eine effektive transzendentale Synthese auf dem Felde der realen
und nicht nur möglichen Erfahrung demonstriert werden. Die
transzendentale Synthese muss sich als eine Phänomenologie
theoretisch vorstellen und systematisch realisieren.
2. Der Geist als monistisches Ontologem in der Philosophie
Hegels
Kant fragt nach der Möglichkeit der systematischen Philosophie.
Hegel realisiert sie. Das formale Philosophieren Kants, das auf die
Erfahrung sieht, ohne sie theoretisch konkret zu berücksichtigen,
also konzeptuell in die Philosophie zu inkorporieren, wird stark
von Hegel kritisiert. Er beschreibt die Situation als ein
"Schwimmen-Wollen, ehe man ins Wasser geht." Laut Hegel ist die
Erfahrung "eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare,
d.h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seyns oder des nur
gedachten Einfachen, sich entfremdet, und dann aus dieser
Entfremdung zu sich zurückgeht, und hiermit jetzt erst in seiner
Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt, wie auch Eigenthum des
Bewußtseyns ist."[5]
Hegel schätzt aber bei Kant das Durchsetzen des reinen Denkens
sehr hoch ein: "Der Standpunkt der kantischen Philosophie ist, daß
das Denken durch sein Raisonnement dahin kam, sich in sich selbst
als absolut und konkret, als frei, Letztes zu erfassen. Es erfaßte
sich als solches, daß es in sich Alles in Allem sey. Für seine
Autorität ist nichts Aeußeres Autorität; alle Autorität kann nur
durch das Denken gelten. […] Fassen wir das Ganze der kantischen
Philosophie zusammen, so finden wir allenthalben die Idee des
Denkens, die absoluter Begriff an ihr selbst ist; […] der Gedanke
und das Denken waren einmal ein unüberwindliches, nicht mehr zu
beseitigendes Bedürfnis geworden."[6]
Hegel tut ein neues Erkenntnisprogramm kund, welches auch auf
der reinen Vernunft gründet. Sie erforscht sich aber selbst nicht
analytisch von einer oder mehreren Seiten her, verbindet nicht
abstrakt die Erkenntnis mit ihren Objekten, ist kein Vermögen der
Natur, welches alleine steht und auf etwas wartet. Die Vernunft
zeigt bei Hegel systematisch ihre eigene Genese und Entwicklung bis
zu den endlichen Reifeformen auf dem Feld der Erkenntnis (das ist
die Phänomenologie), auf dem Feld der Logik (das ist die
Wissenschaftslehre) und auf dem Feld des Seins (das ist die
Ontologie). Diese eigentümliche Seinserscheinung der reinen
Vernunft geschieht in der Form und der Gestalt des Geistes. Er ist
die eigentliche Quintessenz der Seinseinheit in illo tempore. Der
Geist ist das monistische Ontologem der Epoche der Aufklärung. In
der Tat ist er ein Resultat seiner eigenen Seinstätigkeit. Man kann
ihn mit dem Samen vergleichen. Von ihm beginnt die Pflanze, aber er
ist auch das Resultat des ganzen Lebens der Pflanze, erklärt Hegel.
Pathetisch aber doch wissenschaftstreu schreibt er in der
Phänomenologie: "Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß
die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung
ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, - der
erhabenste Begriff, und der der neueren Zeit und ihrer Religion
angehört."[7]
Hegel setzt das rational-konstitutive Prinzip der Identität vom
Denken und Sein voraus. So kristallisiert sich in der Philosophie
die Einheit der Logik und der Geschichte. Diese Ontologisierung
findet als eine Demonstration der Geistesgeschichte (und nicht wie
früher des Gottesdaseins) statt. Das Wort wird zum Begriff. Statt
der reinen Form der Vernunft (wie bei Kant) wird die
Erkenntnisphänomenologie der reinen Vernunft als eine ontologische
Entwicklung des Geistes aktualisiert. Das ist eine neue objektive
Logik, die weitgehend die außenseitigen organonischen Funktionen
der formalen Logik überschreitet. Bei Hegel stimmen die
Erkenntnistheorie, die Ontologie und die Logik überein[8].
Die dreifache konzeptuelle und methodologische Identität von
Gnoseologie, Ontologie und Logik bildet die höchst mögliche
philosophische Stufe der europäischen rationalistischen Philosophie
in deren theoretischer Kohärenz, systematischem Ganzen und realen
Seinskonstitutivität aus. Diese Identität sagt keinesfalls, dass
die alltägliche menschliche Erkenntnis und die menschliche Existenz
identisch sind. Sie stellt die vollendete Form der immanenten Typik
der logosgesetzten, -gebundenen und -bestimmten philosophischen
Erkenntnis, welche in der Philosophie Hegels den Geist als ein
konkretes, reflexives, subjektmäßiges und systematisches Ontologem
verkörpert. Die europäische Logosphilosophie erklimmt ihren
theoretischen Olymp.
In den Heidelberger und in den späteren Fassungen der
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaftenbegreift Hegel die
Philosophie als eine "Wissenschaft der Vernunft […] und zwar
insofern die Vernunft ihrer selbst als alles Seyns bewußt wird."[9] Dieses Bewusstwerden, bzw. diese
Ontologisierung des Seins ist der sich erkennende und in seiner
Idealität entwickelnde Geist, der in seiner Freiheit kein Aggregat
von endlichen Gegenständen, sondern eine lebendige Einheit der
Wirklichkeit, ein Ganzes, "Organisches, Systematisches", ein
subjektmäßiges unendliches Ich ist. Der Geist hat eine konkrete
Natur und sie ist die des Begriffs, die der sich selbst wissenden
Vernunft, die der tätigen, seinskonstitutiven Erkenntnis. Diese
Philosophie ist laut Hegel Idealismus, denn mit dem "Mangel der
Form [der Vernunft, des Denkens, der Erkenntnis] hängt nothwendig
die Entgeistigung des Inhalts [der Philosophie] zusammen."[10] "Die Substanz des Geistes ist die
Freiheit", schreibt kurz und definitiv Hegel. Aber die Substanz der
Freiheit ist die Form des Denkens, weil "die Freiheit nur bis zum
Denken fortgeht", merkt er treffend in der Abteilung des absoluten
Geistes[11].
3. Der Untergang des Geistes als ein Übergang zur
pluralistischen Ontologie in der nachhegelschen Philosophie
In der reinen Philosophie - der Gnoseologie, der Ontologie und
der Logik - erreicht der Geist die absolute Kohärenz und Harmonie
der wissenschaftlichen Systematik. Alles ist Geist, alles ist im
Geist. Der Geist ist das eigentliche Subjekt der Erkenntnis und der
Weltgeschichte. Der Geist schöpft den Sinn des menschlichen Lebens
und der Göttlichkeit aus.
Seitens des Geistes werden gegenüber der angewandten Philosophie
hohe Erwartungen gesetzt und hohe Anforderungen gestellt. Die
Philosophie der Geschichte, die Philosophie des Rechts, die
Philosophie der Religion brauchen nicht nur die entsprechenden
Modifikationen des Geistes, um als dessen Abbilder dargestellt zu
werden, sondern auch um die reine Philosophie in ihren Seins- und
Sinnbestimmungen in das tatsächliche Leben hineinzuinterpretieren.
Nachdem das allgemeine logische Gerüst des Geistes schon ausgebaut
ist, ähnelt das Philosophieren des sozialen Lebens keinesfalls
einer mechanischen Arbeit einer begrifflichen Matrize, sondern ist
ein weiteres reflexives Aufwachsen des Geistes auf dem Territorium
der Geschichte, des politischen Lebens, der Religion u.s.w.
In der angewandten Philosophie Hegels kann man aber einige maß-
und richtunggebende Sätze treffen, die ganz im Sinne des
allgemeinen Geistes korrekt und folgerichtig sind, aber doch dem
"Geist" der Aufklärung widersprechen. Z.B. die Formel, dass das
Vernünftige wirklich ist, aber auch - umgekehrt - das Wirkliche
vernünftig ist. Dieser Satz ist total unkritisch, heute würde man
sagen, restlos ideologisch. Wenn das Wirkliche vernünftig, d.h.
notwendig, wahr, genügend, gerecht u.s.w. ist, dann sagt man damit,
dass wir in der idealen, vollkommenen, besten Welt leben (ähnlich
Leibniz). Zweitens, der Geist ist Subjekt, Zweck und Harmonie. Und
der Mensch ist nur ein Mittel dieses Subjekts, dieses Zwecks und
dieser Harmonie. Darf es aber so sein, dass der Mensch seine
Bestimmung und seine Freiheit im Namen einer Abstraktion verliert?
So wird die totale Entfremdung anerkannt und der Mensch verliert
sein eigenes Wesen. Die Aufklärung hingegen hat aber andere Ideen,
Vorbilder und Praktiken.
Hegel sucht nach dem Grund dieser Disharmonie, nach der Ursache
dieses Skandals. Kant ist in der Philosophie auch mit einem Skandal
zusammengestoßen. In der Vorrede zur zweiten Auflage
derKritikschreibt er: der spekulative Philosoph "bleibt immer
ausschließlich Depositär einer dem Publikum ohne dessen Wissen
nützlichen Wissenschaft, nämlich der Kritik der Vernunft; denn die
kann niemals populär werden, hat aber auch nicht nötig, es zu sein;
[…] weil, die Schule, so wie jeder sich zur Spekulation erhebende
Mensch […] jene dazu verbunden ist, durch gründliche Untersuchung
der Rechte der spekulativen Vernunft einmal für allemal dem Skandal
vorzubeugen, das über kurz oder lang selbst dem Volke aus den
Streitigkeiten aufstoßen muß, in welche sich Metaphysiker ohne
Kritik unausbleiblich verwickeln, und die selbst nachher ihre
Lehren verfälschen." Für Kant können die Wurzeln des Skandals -
nämlich Materialismus, Fatalismus, Atheismus, Aberglauben,
Schwärmerei u.s.w. - nur durch die Kritik abgeschnitten werden.
Weil die Kritik dem Dogmatismus entgegengesetzt ist. Und Hegel, der
mit der theoretisch errungenen Ontologemität des Geistes nicht nur
die Kraft der Kritik, sondern auch die des reflexiven und tätigen
Denkens in den Geist einverleibt, gerät direkt und unvermeidlich in
einen Dogmatismus. Man kann leicht und schnell sagen, dass dies zu
erwarten ist, weil das Prinzip der Identität vom Denken und Sein
den Dogmatismus notwendig voraussetzt und unausweichlich voran
treibt. Aber Hegel hat das Projekt der Phänomenologie unternommen,
weil er nicht nur die Kraft der Kritik, sondern auch die Freiheit
des konstitutiven Denkens ausüben wollte. Die Phänomenologie ist
die gegenständliche Genese der absoluten Vernunft, die nichts
Gemeinsames mit einer abstrakten Deduktion der reinen
Verstandesbegriffe hat. Hegel sucht nach den Ursachen jener
theoretischen Missstände und Misserfolge. Natürlich sucht er nicht
unmittelbar im "Körper" des Geistes (dort kann er keine allgemeinen
Widersprüche finden), sondern in der Spezifik der absoluten
Vernunft.
So kommt Hegel auf die Idee der List der Vernunft: "Die Vernunft
ist eben so listig als mächtig. Die List besteht überhaupt in der
vermittelnden Thätigkeit, welch, indem sie die Objekte ihrer
eigenen Natur gemäß auf einander einwirken und sich an einander
abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Proceß
einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt."[12] Die List ist die eigentliche
Spezifik der Spekulation und letzen Endes auch der absoluten
Vernunft. In der fundamentalen Philosophie ist die List heuristisch
und produktiv. In der angewandten Philosophie wird sie zu
Gewalt.
Die Aufdeckung der List der Vernunft zeigt die ersten dunklen
Flecken auf dem Gesicht des Geistes genau während der Zeit seines
Zenits. Das ist der Zenit der Logosphilosophie. Die Aufdeckung der
List der Vernunft verletzt den 25 Jahrhunderte langen Vormarsch des
Logos als reines, absolutes und konstitutives Denken, d.h. als
ontologieformierende Kraft und Substanz. Entweder ist die Ontologie
obsolet und überflüssig geworden oder sie muss neue Wege zu ihrem
Aufbau finden.
Als die absolute und konstitutive Vernunft ihre eigene List
erfährt, kommt sofort die Alternative der ontologisierenden
Vernunft zum Vorschein. Schopenhauer entwickelt den absoluten
Willen und so bekommt die Ontologie eine zweite Quelle. Seitdem
kann die Ontologie niemals mehr monolithisch, kohärent und gesund
sein.
Der immanente, d.h. im Bereich der reinen Philosophie
fortlaufende Untergang des monistischen Geistes bestimmt nach
Hegels Tod die Epoche der Dekadenz. Die absolute Vernunft geht
allmählich aber notwendig zugrunde. Von innen her wird die
monologische Rationalität gesprengt. Deshalb löst sich die
monistische Ontologie auf. In der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts erlebt Europa eine Dekadenzperiode, die alle Geistes-
und Sozialbereiche umfasst. Der Grund dafür ist der Zerfall der
absoluten monologisch-konstitutiven Vernunft.
Allgemein betrachtet sind es hauptsächlich drei Philosopheme,
die diesen Weg am deutlichsten zum Ausdruck bringen. Zum ersten
kommt (natürlich) Nietzsches Initiation "Gott ist tot". Ohne Gott
gibt es keine Seinsgenese, keine Welteinheit, keine Moral, keinen
geistigen Monismus. Nietzsches Philosophie zeigt die endgültige
Scheide zwischen der vorigen und der heutigen Zeit. Hier zählen der
Nihilismus, "der aristokratische Radikalismus" (Brandes), die
Umwertung aller Werte, die Religions- und Moralkritik, die
Hammerphilosophie, die Lebensphilosophie, der Kulturbegriff, der
Übermensch, die neue Moral, die Urschönheit, der spezifische
Humanismus Nietzsches.
An zweiter Stelle muss man Freuds Psychoanalyse erwähnen.
Eigentlich ist sie keine Philosophie, hat aber eine grundlegende,
spezifisch philosophische Wirkung erarbeitet - nämlich die
Zerlegung der Ich-Identität (am deutlichsten ist sie von Fichte
ausgebaut) als eine einheitliche Seinsbasis der menschlichen
Existenz in der Welt. Nach Freud ist das Ich nicht hinreichend als
Fundament für eine konsequente Darstellung des Geisteslebens des
Menschen. Und zusätzlich ist die Selbstreferenz des Ichs keine
Gleichheit und Harmonie. Sie zeigt zwangsläufige Abweichungen und
sogar Pathologie. So erfährt die Vernunft gleichzeitig zwei
Verluste: erstens, sie ist nicht mehr eine selbständige
metaphysische Struktur, die tadellos die Ontologie konstituiert;
zweitens, als Menschenvermögen hat die Vernunft bei der Bestimmung
des Menschenverhaltens keine Priorität mehr. Freuds triadisches
Modell Es-Ich-Überich setzt eine neue pluralistische Konstitution
des geistigen Menschseins.
An dritter Stelle steht Leonard Nelsons Erhebung des
Sokratischen Dialogs als eine der gegenwärtigen Zeit konsequent
angemessene Methode für die Wahrheitsforschung. Die Herrschaft des
Begriffs, des Monologs, der langen Erzählung und des notwendigen
Systems ist abgeschafft. Zum Teil hat der seit Montaigne,
Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und Lichtenberg bekannte
Aphorismus das schon geleistet, ohne aber richtig nach der Wahrheit
zu fragen. Genau wie der Aphorismus zerstört der Dialog die logisch
strenge rationale Form des monistischen Philosophierens, bewahrt
aber die typisch philosophischen Heuristiken in Bezug auf die
Konstruktivität. Der Dia-log hat auch eine Logik, die aber nicht
mono-logisch ist. Er ist keine Destruktion, sondern laut Nelson
eine gut und präzise erarbeitete regressive Methode der
Abstraktion, damit man frei nach der Wahrheit suchen kann.
Neben diesen drei Hauptmodi der immanenten Zerlegung des
rational-monistischen Geistes kann man in dieser Richtung noch
viele weitere philosophische Tatsachen aufzählen: Kierkegaards
Absurdismus und Paradoxismus, die die menschliche Existenz
beschreiben, ohne es mehr nötig zu haben, den schlechten
Widerspruch irgendwie zu überwinden; Marx Enthüllung der realen
Entfremdung und Marx theoretischer Aufbau einer pluralistischen
Sozialontologie; Dostojewskijs Projekt des Menschengottes und sein
notwendiges Scheitern; Langes, Machs und Avenarius Positivismus;
Husserls Krise der europäischen Wissenschaften u.s.w. So verliert
die absolute Vernunft nicht nur ihre Priorität, die einzige Quelle
der Wahrheit auszumachen (das hat schon Kant aufgehoben), sondern
auch ihre Grundrolle, eine Quelle der monistischen Ontologisierung
zu sein. Der Geist kann nicht weiter ein einheitliches Ontologem
der Gottes- und Lebenswelt sein. Rein philosophisch hat er sich
diskreditiert, sofern er nicht weiter die ontologische Einheit
kohärent instand- und inganghalten kann. Die rationale Grundursache
davon ist der innerliche Abbau der absoluten Vernunft. Die
phänomenale Ursache davon ist die bewegte Entwicklung der
Weltgeschichte.
4. Der Geist im gegenwärtigen pluralistischen Ontologem der
Kultur
Welches ist heute das ontologische Schicksal des Geistes nach
der totalen Dekadenz des Erkenntnis- und Seinsmonismus, nach dem
Krach der absoluten Vernunft und der Ontologie des Einen? Die
einfache Antwort ist folgende: der Geist hat dasselbe Schicksal wie
die Seele und die Intelligenz, wie die anderen Ontologeme der
vergangenen Epochen Europas.
Die Frage nach der philosophischen Auffassung, bzw. der
konstitutiven Erkenntnisbegründung der heutigen sozialen Faktizität
auf dem Wege der Theoretisierung einer pluralistischen Ontologie
hebt zunächst die Kritik als neue Form der aufbauenden Rationalität
heraus. Kant ist der erste, der das Erkenntnispotential der Kritik
aufzeigt, leider ohne ihr Ontologisierungspotential zu verwerten.
Nach Kant haben sich viele Philosophen auf die Kritik gestützt.
Hier möchte ich mich in diesen vielstimmigen Chor einreihen, aber
mit dem Anspruch auf eine folgenreiche theoretische Ausnutzung der
transzendental-ontologischen Leistungsfähigkeit der Kritik.
Die Grundfrage in diesem Punkt ist nach der
rational-produktiven, d.h. ontologisierenden Innovatiionskraft der
Kritik. Sie hat ihre von Kant gezeigte transzendental-synthetische
Funktion, überspringt aber den ihr von Kant zugemessenen
vorhöfischen und propädeutischen Status. Als eine transzendentale
und reflexive Synthese ist die Kritik die eigentliche apriorische
Form der gegenwärtigen Erkenntnisphilosophie.
Das Problem kann man so formulieren: wie ist heute die rationale
Ontologisierung nicht nur möglich, sondern auch real? Wie findet
sie statt? Die kritische Ontologisierung wechselt ihre von Kant
gelegte Laufbahn, wechselt, wie Heidegger sagen würde, die
Leitfrage (doch nicht die Grundfrage). Das Philosophieren
entspringt aus der reinen metaphysischen Erkenntnisform (so auch
Kant), es hebt aber nicht mit der menschlichen Erfahrung gegenüber
der Natur, auch nicht mit dem bloßen Dasein (so Heidegger), sondern
mit der moralischen Existenz des Menschen an. Es handelt sich um
ein eigenartiges Zusammenbauen der Kantischen und Hegelschen
philosophischen Programme in Bezug auf eine neue Seinsauffassung.
Der Knotenpunkt ist die moralische Existenz, die inhaltsreich und
nicht abstrakt-geschichtlich, nicht bloß an sich ist. Kant setzt
auf die transzendentalisierende Erkenntnistätigkeit, es gelingt ihm
aber keine Ontologisierung. Die tätige Vernunft schafft
unübersehbare Klüfte in der Ontologie. Hegel baut eine vollendete
dynamische Ontologie auf, die aber im Voraus erkenntnismäßig
dogmatisiert und beschränkt ist.
Der kritisch-rationalisierende konstitutive Vorgang, der auf die
geschichtlichen Ontologeme zielt, indem er das Mannigfaltige der
vorhandenen Erfahrungsterritorien mittels der aufbauenden
transzendentalen Synthese kategorisch philosophiert, erweist die
Kultur als das pluralistische Ontologem des gegenwärtigen
gesellschaftlichen Seins.
Der Begriff der Kultur hat in der Philosophie eine lange
Geschichte. Hier muss man zunächst diecultura animi, die
Verwandtschaft mit demcultus, die Opposition mit dernaturaerwähnen.
Die Kultur war also am Anfang eine Tätigkeit und erst später wurde
sie zum Wesen, Wert, Sinn und Sein. Die wichtigsten Namen bei
dieser konzeptuellen Entwicklung sind Samuel Pufendorf, Rousseau,
Herder, die Freiburger Kantianer u.v.a. Immer war die Kultur
irgendwie im Plural, aber erst nach dem Untergang des monistischen
Geistes konnte sie sich ontologemisch durchsetzen. So prägt sie den
Verlust der Seinseinheit, der totalen rationalen Kontrolle, der
einheitlichen Normen, Ansätze, Wertungen, Deskriptionen,
Einsichten. Es kommt eine globale kulturelle Relativierung, die
nicht nur das allgemeine Sein und die Geschichte, sondern auch die
Physik erobert (Einstein).
Zwei Momente sind bei dieser ontologischen Pluralisierung
schwerwiegend: Erstens, der Dia-log als ein Explikat der
Erkenntniskraft der Kritik verbietet philosophisch jeden
Seinsdogmatismus. Zweitens (und eng mit dem oberen verbunden) ist
die kritische, d.h. die pluralistisch-relevante Transformation des
Diskurses zu vermerken. Seine, dem Mono-logos entsprechende
Geschichte in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophie,
erfährt ein Ende. In der heutigen Philosophie heisst der Diskurs
sowohl Dialog, Logik, Methode und Sprache, als auch Existenz und
pluralistisches, kulturales Dasein.
Die Kultur relativiert, nivelliert und entkernt die geistigen
Werte. Sie duldet keine Monaden, Einheiten, Absolutismen. Die
ontologische Sublimation des Einen verwandelt sich in eine
kulturale Verwahrlosung des Seins. Die Kultur sorgt aber für die
Minderheiten. Jeder Verlust jeder einzigen Minderheit ist für sie
ein Seinsverlust ihrer selbst. Die beständige Partialität, der
soziale Atomismus und nicht die grundlegende einzige Substanz ist
das Seinsmodell der Kultur.
Die heutige post-moderne Philosophie drückt diese Situation
deutlich aus. Der Personalismus und der Existenzialismus gehen in
eine postmoderne Situation über, wo alle "-ismen" sinnlos und
deswegen verboten sind. Die Postmoderne hat aber keinen eigenen
Namen[13].
Das kulturale Benennen (eigentlich Ontologisieren), bzw. das
pluralistische Dimensionieren der heutigen Kultursituation ist das
Großgefühl der sich selbst durchsetzenden Individualität und
Partialität. Sie weigert sich nach einer innerlichen Einheit zu
suchen, weil die Letztere schon paradoxalisiert und in den
Gewittern des Nihilismus verschwunden ist, weil der synoptierende
Logos sich zugleich in eine listige Vernunft verwandelt hat. So
zerstört die Individualität sich selbst, weil sie sich nicht
monadologisieren kann. Der einzige Ausgang ist die kulturale, von
außen bestimmte und nach außen drängende Relativierung, die sich
existentiell in einer Menge von Diskursen ausprägt.
Die Kultur amorphisiert sich, weil ihre eigene Natur eine
unbestimmte und unbeständige ist. Sie ist ein geschichtliches
Vorhandensein, bei dem die Rationalität ihre führende
ontologisch-konstitutive Rolle grundsätzlich verloren hat. Die
Kultur wird allmählich eine Diskursresonanz. Sie präsentiert ein
Status quo von größeren und kleineren Gesellschaften, in denen der
Mensch auf eine alienierte Weise seine eigene Natur projiziert,
indem er sie in das bestimmte "Kleid" der entsprechenden
Gesellschaft kleidet. So festigt sich der liberale politische
Diskurs, der nach der Zusammenarbeit und dem Konsensus und nicht
nach der Wahrheit und der Gerechtigkeit sucht. Die Zeit verliert
ihren diachronischen Wert, die Geschichte schafft kein Sein mehr.
Ihre synchronische Dimensionierung ist die Menschenfreiheit als
Gruppenidentität. In Form einer hypertrophierten Gestalt des
Anderen, der Gesellschaft und des Todes gewinnt das Transzendente
immer mehr Platz.
Die pluralistische Ontologemität der Kultur verallgemeinert die
vermittelnden Mechanismen zu einem ontologischen Topos, der die
zersplitterten Individualitäten in sich selbst zusammenfasst. Sie
haben keine eigene Monadität, keine wesensmäßige Summe, keine
soziale Substanz. Ob das zu einer neuen Utopie führt oder sich auf
eine neue Mythosgenese oder eine neue Ideologie beruft oder bloß
eine freie Gesellschaft ist, die nach einer "neuen Freiheit" sucht,
ist ein Thema des heutigen politischen Diskurses. Er muss sich des
Anderen (der Transzendenz) erbarmen, ihm ein menschliches Gesicht
geben und ihn zwingen sich selbst als ein Gehäuse des unterkunfts-
und verwahrlosten Menschen zu transponieren. Früher war die Politik
ein unvermeidliches Übel. Heute ist sie das eigene Dasein des
Menschen in seinem Anderssein. Nach dieser Rolle der Politik
streben auch der Fußball, der Sport überhaupt, die Firma, das
Fernsehen, die Sexualität, die Drogen, die Nation usw. Sie sind
kulturale Masken, die aber keinen Karnevalcharakter haben und nicht
nach Wunsch abgenommen werden können. Eher sind die mit ihnen
bedeckten Gesichter ohne eigenes Ansehen. Von der Freiheit ist nur
das Abzeichen oder das Hemd mit dem Aufdruck der Freiheit
geblieben. Von Angst, Schmerz und Krankheit verwandelt sich die
Entfremdung in einen bequemen und gemütlichen existentiellen
Diskurs.
In dieser kulturausgeprägten pluralistischen Situation muss die
Kritik als eine philosophische Erkenntnisform nach ihrem Sektor bei
der Ontologisierung suchen. Die eigentliche europäische
Logosphilosophie muss sich nicht nur als eine Tradition, sondern
auch als eine lebendige Kraft in der gegenwärtigen Kultur aktiver
und unternehmender einmischen. Kaum gibt es einen Philosophen -
sogar unter den postmodernen - der in seinem Diskurs nicht auf
einen Erkenntnisweg eingeht. Es gibt kaum ein Mitglied der
"diskursiven Gesellschaft", das die heutige "postmoderne Situation"
außerhalb der Erkenntnis analysiert. Kaum gibt es einen nach sich
selbst und nach der Welt fragenden Menschen, der nicht Acht auf die
Erkenntnis gibt. Kaum kann man heute mit dem Geistesleben ohne das
reine Denken umgehen. N. Rescher analysiert die Lebenskraft der
verschiedenen Typen des Idealismus und bejaht die Vorzüge des
Begriffsidealismus als eine notwendige Konzeptualität für die
Argumentation der Interpretationsschemata der Naturforschung.
Das ist eine philosophische Rehabilitation der Erkenntnis. Die
Fundamentalisierung der Erkenntnis ist immer ein Idealismus! Das
ist eine Rückkehr der intellektuellen und existentiellen Freude an
den erkenntnismetaphysischen Wegen-der-Form und Für-die-Erfahrung
in deren nicht nur apriorischen Topik, sondern auch
transzendentalen Mediativität und ontologischen Konstitutivität.
Die synthetische Kraft des reinen Denkens, die nicht nur nach der
Wahrheit sucht, sondern auch das Menschendasein zwischen der
Transzendenz, dem Anderssein und der Autentität erforscht, findet
wieder ihre konstitutive Wirksamkeit.
Bei dieser Theoretisierung haben die Seele, die Intelligenz und
der Geist keinen ontologemen Status im Paradigma der Kultur. Sie
verlieren aber nicht ihren in der Geschichte formierten Sinn. Sie
sind auch heute geistig vorhanden, haben aber in der
Subjekttätigkeit des Menschen und der Gesellschaft eine Bedeutung
nur als Elemente des Daseins der Kultur. Die Seele ist eine
hauptsächlich poetische Dimension der Person; die Intelligenz
präsentiert die Vernünftigkeit inkl. ihr computerisiertes Modell in
Form der künstlichen Intelligenz; der Geist, als historisch der
Kultur am nahesten stehender, bewahrt die meisten seiner globalen
und kosmopolitischen Bestimmungen auf. In jedem Einzelfall übt die
Kultur ihren Seinseinfluss aus und so relativiert sie die Seele,
die Intelligenz und den Geist in ihrer eigenen Seinsstruktur. Das
bedeutet keine ontologische Nihilisierung der Seele, der
Intelligenz und des Geistes, obwohl sie sozusagen vom Seinsthron
schon gefallen sind, sondern ihre kulturmäßige Umwertung und neue
Einordnung in die ontologischen Felder der Gegenwart. Hier geht es
aber um keinen Kulturzentrismus, weil die Kultur immer im Plural
ist. Sie impliziert Koexistenz, Dialog, Standhaftigkeit,
Stabilität, Toleranz, aber auch einen agonalen Charakter.
Die Kultur hat ihren Zenit noch nicht erreicht. Die Epoche hat
ihren Namen noch nicht gefunden. Die vielen "post-", "neo-",
"anti-", ana-", "hyper-" u.s.w. zeigen die Prozesse des Reifens des
heutigen Zeitalters. Es sucht eifrig nach dem Typ seiner eigenen
Identität.
Schlusswort
Der Geist ist heute Sentiment, Ekstase, Romantik, Anachronismus,
Ideologie. Er hat kein existentielles Sein im Sinne einer causa
sui, eines allgemeinen Subjekts, eines homogenen Ganzen. Er ist
auch kein fundamental-ontologisches Reales. Noch weniger kann er
einen ontologemen Charakter für das gesellschaftliche Sein
haben.
Wer aber in seiner Genese den Geist nicht hat, ist ein
existentielles Waisenkind; wer seine Gegenwart in den Geist legt,
begräbt seine Zukunft. Die heutige Welt ist nicht die des
monistischen, optimistischen, sich selbst unendlich entwickelnden
Geistes. Nein, sie ist kulturell pluralistisch, gleichzeitig und
gleichermaßen optimistisch und pessimistisch, emporsteigend und
dekadent. Darin ist der Geist notwendig seinspräsent. Inwieweit und
wie - das entscheidet heute jede sich selbst angezeigte
Philosophie.
Eines steht aber fest: der Geist des Geistes ist das
ontologisierende Denken, die systematisch konstruktive und
konstitutive Erkenntnis. So ist der Geist des Geistes ein
seinsaufbauender intellektueller Systematismus. Und es ist höchste
Zeit den Trend der heutigen Philosophie, der
Freud-Heidegger-Wittgenstein-Lyotardschen psycho-
existentiell-sprach-postmodernen Analytik zu einem heuristischen
erkenntnisfundierten Synthetismus, zu einer kreativen Synthese des
Denkens umzudrehen.
Hegel würde sich freuen.[14]
[1] G. W. F. HEGEL, Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie, in: Sämtliche Werke.
Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. v. H. Glockner,
Stuttgart, 1940, Bd. 17, S. 344.
[2] G. W. F. HEGEL,System der
Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, a.a.O.,
1929, Bd. 10, S. 35, 446.
[3] G.W.F.HEGEL,Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., 1941, Bd. 19, S.
25.
[4]Die Bibel, 1 Kor. 2:6-7;
Joh. 8:25; 14:26; 1 Joh. 5:7; Röm. 8:26, 10:17; 1 Kor. 15:46-47;
12:3-6.
[5] G. W. F.
HEGEL,Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 1932, Bd. 2, S. 36 f.
[6] G. W. F. HEGEL,Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., 1941, Bd. 19, S. 552,
609, 611.
[7] G. W. F.
HEGEL,Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 1932, Bd. 2, S. 27.
[8] "[…] die logische
Wissenschaft, welche die eigentliche Metaphysik oder reine
spekulative Philosophie ausmacht […]" G. W. F. HEGEL,Wissenschaft
der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik, a.a.O., 1936, Bd. 4,
S. 16.
[9] G. W. F. HEGEL,Enzyklopädie
der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, a.a.O., 1938, Bd.
6, S. 22.
[10] G. W. F. HEGEL,System der
Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, a.a.O.,
1929, Bd. 10, S. 13.
[11] Vgl. G. W. F.
HEGEL,System der Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des
Geistes, a.a.O., 1929, Bd. 10, S. 31, 449.
[12] G. W. F. HEGEL,System der
Philosophie. Erster Teil. Die Logik, a.a.O., 1940, Bd. 8, S. 420.
Das Erkennen als List ist schon in derPhänomenologie aufgedeckt -
vgl. G. W. F. HEGEL,Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 1932, Bd.
2, S. 68, 52.
[13] Dieses "post" ist einem
"meta" (verbunden mit dem Namen von Andronikos von Rhodos) ähnlich,
aber auf Latein gesagt. Warum nicht auf Griechisch, warum nicht in
einer Sprache? Und was würde dann Metamoderne heissen? Kann es
sein, dass im Vergleich mit der sinnreichen Metaphysik die
Metamoderne ein leeres, inhaltsloses und unnötiges Wort sein würde?
Oder ist diesesmeta (der Metamoderne) ein einfachesnach
oderhinterher, welches kein eigenes Gesicht hat?
Die altgriechische Sprache kennt das Wortmoda. Es bedeutet
Fussbodenbelag. Als Terminus kommt es in den Texen der
altgriechischen Philosophen nicht vor, ist aber in Hezihios Lexikon
(vom V Jahrhundert; 1536.1) im Sinne vonstromata(vgl. Clemens von
Alexandria) erwähnt. (Trotzdem muss man aber sagen, dass, wenn es
um Mode und Moderne geht, verweisst die heutige Lexikographie auf
das frühlateinische Wortmodusund das spätlateinische
Wortmodernus).
[14] Plenarvortrag am XXVII
Internationalen Hegel-Kongress in Leuven 2008; in: Hegel-Jahrbuch,
2010 (im Druck).